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"Mir geht’s gut" – wenn Menschen nicht ehrlich zu sich selbst sind



Wie oft hören wir diese Antwort, wenn wir jemanden fragen, wie es ihm geht? "Mir geht's gut." Es scheint die Standardantwort in vielen alltäglichen Gesprächen zu sein. Doch was passiert, wenn diese Antwort nicht der Wahrheit entspricht? Wenn hinter dem "Mir geht’s gut" eine andere Realität steckt, die ungesagt bleibt?



Hinter einem scheinbar harmlosen "Mir geht’s gut" kann sich eine komplexe emotionale Landschaft verbergen. Oft ist diese Antwort eine Schutzreaktion, die tiefere, ungelöste Gefühle verschleiert. Die Gründe, warum Menschen diese Fassade aufrechterhalten, sind vielfältig und können in ganz unterschiedlichen Bereichen des Lebens liegen.


1. Angst vor Verletzlichkeit

Viele Menschen haben Angst davor, als schwach wahrgenommen zu werden, wenn sie ihre wahren Gefühle zeigen. Sie fürchten, dass sie verurteilt oder nicht ernst genommen werden. In einer Welt, in der Leistungsfähigkeit und Stärke oft im Vordergrund stehen, ist es schwer, sich zu seinen Schwächen zu bekennen. Ein "Mir geht’s gut" wird dann zur schnellen Antwort, um unangenehme Fragen zu vermeiden und die innere Verletzlichkeit zu verbergen.


2. Gesellschaftliche Erwartungen

Oft wird von uns erwartet, dass wir optimistisch und positiv durchs Leben gehen, unabhängig davon, was wir innerlich erleben. Diese gesellschaftliche Norm kann dazu führen, dass Menschen das Gefühl haben, sie müssten immer ein glückliches und zufriedenes Bild nach außen tragen. Das Eingeständnis, dass es ihnen nicht gut geht, könnte als ein Zeichen des Scheiterns oder als unwillkommen angesehen werden.


3. Die Angst, andere zu belasten

Viele Menschen vermeiden es, ehrlich über ihre Gefühle zu sprechen, weil sie nicht wollen, dass andere sich Sorgen machen oder sich für sie verantwortlich fühlen. Sie haben vielleicht das Gefühl, dass ihre Probleme zu klein oder nicht wichtig genug sind, um sie zu teilen. Das "Mir geht’s gut" wird zu einer Art Schutzschild, um zu vermeiden, dass andere in die eigene emotionale Welt hineingezogen werden.


4. Unbewusste Verdrängung

In einigen Fällen haben Menschen so stark gelernt, ihre negativen Emotionen zu verdrängen, dass sie sich ihrer inneren Belastungen gar nicht mehr bewusst sind. Sie sagen "Mir geht’s gut" und glauben es auch, weil sie den Zugang zu ihren tatsächlichen Gefühlen verloren haben. Die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen bleibt aus, und es entsteht eine Art innerer Betäubungszustand.


5. Perfektionismus und Selbstbild

Für einige ist das "Mir geht’s gut" Ausdruck eines inneren Perfektionismus. Sie möchten sich und anderen beweisen, dass sie alles im Griff haben – auch wenn das nicht der Fall ist. Das Eingeständnis, dass es ihnen nicht gut geht, könnte für sie ein Zeichen dafür sein, dass sie ihren eigenen Erwartungen nicht gerecht werden.


6. Überforderung und Hilflosigkeit

Hinter dem "Mir geht’s gut" kann auch das Gefühl stecken, dass die eigenen Probleme so groß sind, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Es gibt Situationen, in denen Menschen sich so überwältigt fühlen, dass es einfacher erscheint, die Probleme zu ignorieren, anstatt sich ihnen zu stellen. Der Gedanke, die Wahrheit auszusprechen, könnte die Angst verstärken, dass es keinen Ausweg gibt.


7. Schutz der eigenen Privatsphäre

Es gibt auch Menschen, die einfach sehr privat sind und sich ungern emotional öffnen – selbst gegenüber nahestehenden Personen. Sie wählen das "Mir geht’s gut" nicht, weil sie nicht gesehen werden wollen, sondern weil sie ihre emotionale Welt für sich behalten möchten. Für sie ist diese Antwort ein bewusster Schutz ihrer inneren Integrität.


Hinter einem "Mir geht’s gut" können sich also viele unausgesprochene Emotionen verstecken: Erschöpfung, Überforderung, Frustration oder gar tiefer Schmerz. Doch der Preis für diese Selbsttäuschung ist hoch. Langfristig können verdrängte Gefühle zu Stress, Burnout oder sogar körperlichen Beschwerden führen.


Als Coach ist es nicht die Aufgabe, jemanden zu überreden, seine Fassade fallen zu lassen. Vielmehr geht es darum, Raum zu schaffen, damit der Klient in seinem eigenen Tempo erkennt, wie es ihm wirklich geht. Denn erst, wenn jemand bereit ist, sich mit seinen echten Gefühlen auseinanderzusetzen, kann Veränderung geschehen. Der erste Schritt beginnt mit der Erkenntnis, dass das oft gesagte "Mir geht's gut" vielleicht nur die halbe Wahrheit ist.


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