Ratschläge zu geben ist eine Handlung, die viele von uns fast schon automatisch ausführen. Es beginnt meist ganz unschuldig: Jemand erzählt von einem Problem, einer Herausforderung, und bevor wir es überhaupt bewusst realisieren, sprudeln die Ideen, Vorschläge und „Weisheiten“ aus uns heraus. Es scheint fast, als hätten wir einen unerschöpflichen Vorrat an Antworten auf die Fragen und Sorgen anderer. Aber hast du dich jemals gefragt, was genau dabei passiert, wenn wir anderen Ratschläge geben? Was diese Dynamik für uns selbst bedeutet?
Wenn wir Ratschläge geben, tun wir dies oft aus einer Position heraus, in der wir glauben, dass wir etwas Wertvolles zu teilen haben. Das ist zunächst einmal ein Zeichen von Empathie und Hilfsbereitschaft. Doch gleichzeitig können Ratschläge auch eine Projektion unserer eigenen Überzeugungen, Erfahrungen und unbewussten Glaubenssätze sein. Wir greifen auf das zurück, was für uns selbst funktioniert hat oder was wir gerne selbst besser verstehen würden. Oft spiegeln sich in den Ratschlägen, die wir anderen geben, Aspekte unserer eigenen Persönlichkeit, unserer eigenen inneren Kämpfe und Sehnsüchte wider.
Das interessante daran ist, dass wir, während wir anderen helfen, oft übersehen, dass dieselben Ratschläge für uns selbst eine Bedeutung haben könnten. Wir sagen anderen, sie sollen „ruhig bleiben“, wenn sie unter Druck stehen, doch wie oft gelingt es uns selbst, in stressigen Situationen die Ruhe zu bewahren? Wir raten anderen, „loszulassen“, wenn sie sich an einer Situation festklammern, doch wie schwer fällt es uns selbst, Dinge in unserem Leben loszulassen, die uns belasten? In jedem gut gemeinten Ratschlag steckt immer ein Teil von uns – unser Wunsch, bestimmte Dinge zu meistern oder zu überwinden, die uns vielleicht selbst noch herausfordern.
Ein weiterer Aspekt des Ratschlagsgebens ist der Druck, der damit einhergeht. Wenn wir die Verantwortung übernehmen, jemanden zu beraten oder zu unterstützen, kann das unbewusst eine Last auf uns selbst legen. Es ist, als ob wir von uns selbst erwarten, dass wir stets die richtigen Antworten parat haben – für andere, aber vielleicht auch für uns selbst. Diese Dynamik kann dazu führen, dass wir uns selbst unter Druck setzen, immer kompetent und „weise“ zu wirken, selbst wenn wir uns innerlich vielleicht unsicher oder überfordert fühlen.
Interessant wird es, wenn wir diese Dynamik auf Coaching übertragen. Im Coaching geht es nicht darum, den Klienten fertige Antworten oder Lösungen zu präsentieren. Der Kern des Coachings besteht darin, Raum zu schaffen, in dem der Klient seine eigenen Antworten finden kann. Es geht nicht um den Rat, der von außen kommt, sondern um die Selbstentdeckung, die von innen heraus geschieht. Jeder Mensch trägt die Ressourcen und Antworten, die er sucht, bereits in sich – manchmal braucht es nur jemanden, der den Prozess anstößt und unterstützt.
In meinem Coaching achte ich bewusst darauf, keine vorgefertigten Ratschläge zu geben. Stattdessen begleite ich die Menschen dabei, ihre eigenen Lösungen zu finden. Es geht darum, Fragen zu stellen, die neue Perspektiven eröffnen, und den Raum zu schaffen, in dem die Antworten von allein aufsteigen. Ratschläge sind oft wie Pflaster auf eine Wunde – sie können kurzfristig helfen, aber die wirkliche Heilung kommt von innen. Wenn wir uns darauf konzentrieren, anderen einfach nur Ratschläge zu geben, übersehen wir oft, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg und seine eigene Geschwindigkeit hat, um Herausforderungen zu meistern.
Interessanterweise habe ich selbst in meiner Rolle als Coach und Begleiter erkannt, dass Ratschläge, die ich anderen gebe, oft auch für mich selbst eine Bedeutung haben. Es ist, als würde man einen Spiegel vor sich halten, in dem man die eigenen Themen und Lektionen erkennt. Jeder Rat, den ich formuliere, bringt mich dazu, auch meine eigene Haltung, mein eigenes Leben zu reflektieren. Es ist ein ständiger Prozess des Lernens und Wachsens, der nie endet.
Ratschläge zu geben ist nicht per se falsch. Doch es lohnt sich, darüber nachzudenken, was wirklich passiert, wenn wir anderen etwas empfehlen. Welche Rolle spielen dabei unsere eigenen Erfahrungen, Überzeugungen und Erwartungen? Und wie können wir sicherstellen, dass wir selbst genauso aufmerksam und achtsam mit uns umgehen, wie wir es bei anderen tun?
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